Herr Ratsvorsitzender,
Herr Oberbürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

bei aller Besorgnis, bei allem notwendigen und energischen Widerspruch, für manche auch bei aller Wut und Enttäuschung, bei allen Schmerzen, die die Äußerungen von Bürgermeister Dr. Scharf – von dir, Gerd – ausgelöst haben, in der heutigen Diskussion und in dem gemeinsamen Nachdenken über die Fragen, die durch diese Äußerungen ausgelöst wurden, in dieser Diskussion liegt eine Verantwortung, und, ja, liegen auch Chancen, die wir gemeinsam ergreifen sollten.

Die Äußerungen von Dr. Scharf gilt es natürlich im Hinblick auf die Frage zu bewerten, ob derjenige, der sich so geäußert hat, noch tragbar ist als Repräsentant der Hansestadt Lüneburg. Und dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass Dr. Scharf über viele Jahre ein geschätzter, stets redlicher, engagierter und jederzeit um Verständigung bemühter Repräsentant dieser Stadt war.

Es gilt darüber hinaus aber auch abzuwägen, was durch die Abwahl gewonnen wäre für die dringend notwendige Diskussion um die „Gedenkkultur“ in der Stadt. Es gilt, die richtigen Konsequenzen aus diesen Äußerungen zu ziehen für das Gedenken und Erinnern an die Verbrechen, die von Deutschen in den Jahren zwischen 1933 und 1945 begangen wurden. Natürlich geht es heute in Sonderheit um die Verbrechen, die die deutsche Wehrmacht und konkret die 110. Infanteriedivision, in diesen Jahren systematisch begangen haben, vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion – während eines von Deutschen begonnenen und verschuldeten Angriffskrieges. Der Forschungsbefund dazu ist umfangreich und eindeutig.

Meine Damen und Herren, die Art und Weise, wie wir mit diesen Fragen, aber auch mit dem heute vorliegenden Abwahlantrag umgehen, wird viel über uns selbst aussagen, über unsere Art des Umgangs mit einander, aber auch mit diesem vielschichtigen und komplexen Thema. Wir sollten dabei zwei Fehler nicht machen: Wir sollten uns nicht von denen treiben lassen, die faschistisches, nationalsozialistisches, fremdenfeindliches oder schlicht menschenverachtendes Gedankengut verbreiten, um geschichtliche Wahrheiten zu verfälschen, zu verschleiern oder zu leugnen. Wir sollten uns aber auch von denjenigen nicht treiben lassen, die Moral, Anstand und die einzig richtige Deutung in diesen Fragen gepachtet zu haben meinen und uns allzu einfache Antworten anbieten.

Um es noch einmal klar und unmissverständlich zu benennen: Die Äußerungen von Herr Dr. Scharf in dem in Rede stehenden Blog sind in weiten Teilen untragbar. Sie sind – vor allem – an mehreren Stellen inhaltlich falsch und in ihren Intensionen in die Irre führend. Herr Dr. Scharf selbst hat das jetzt eingeräumt und sich entschuldigt, das ist gut, wenn es auch sehr spät kommt!

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns, trotz allem, gerade in dieser Situation, für einen Moment auf das blicken, was uns miteinander in dieser Diskussion verbindet, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, der GRÜNEN, der FDP, der LINKEN und, so hoffe ich, auch der AFD. Und das sind nach meiner Überzeugung genau die Dinge, die es an den Äußerungen im Blog richtigzustellen gilt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig, dass, wer von Versöhnung spricht und dies als Ziel formuliert, niemals die in deutschem Namen begangenen Verbrechen relativieren, aufrechnen oder vergleichbar machen darf. Diese Verbrechen sind und bleiben beispiellos! Und dazu gehört auch, dass niemals Ursache und Wirkung zu verwechseln sind: Angehörige der Wehrmacht verteidigten nicht ihr Land in diesem Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion. Versöhnung beginnt mit der Anerkennung der historischen Wahrheiten!

Zweitens: Wir sind uns einig: Wer Erkenntnisse der historischen Forschung zu diesem gewiss schwierigen Thema als „anti-deutsche Propaganda“ bezeichnet oder anderen darin beipflichtet, der spielt denjenigen in die Hände, die historische Wahrheiten verfälschen oder leugnen wollen, der bereitet denjenigen den Boden, die Geschichte umdeuten, Verantwortung verweigern und nationalsozialistisches Denken wieder hoffähig machen wollen.

Und drittens: Menschen, die in Deutschland unter Zwang, ohne Entlohnung und irgendwelche Rechte arbeiten mussten; deren Tod billigend in Kauf genommen oder herbeigeführt wurde, wenn sie nicht mehr „arbeitsfähig“ waren – diese Menschen waren keine Fremdarbeiter, sie waren Zwangsarbeiter, eigentlich waren sie nichts anderes als Sklaven. Wer sich mit diesen Menschen und ihren Hinterbliebenen oder Nachkommen versöhnen will, der muss hier sehr eindeutig sein, auch und gerade in der Wortwahl.

Wir sind uns aber wohl auch darin einig, dass Formen des Erinnerns und Gedenkens vielschichtig und kompliziert sind und dass es zu unterscheiden gilt zwischen dem Aufarbeiten und Sichtbarmachen komplexer historischer Wahrheiten und dem individuellen Trauern um Angehörige, Gefallene, Mitmenschen.

Vor kurzer Zeit sind in meiner Familie Briefe aufgetaucht. Briefe, die der Bruder meines Vaters von der Front im Osten an seine französische Geliebte geschrieben hat, bis wenige Tage vor seinem Tod. Briefe, die einen tief berühren und mit Trauer erfüllen. Aus denen die große Sehnsucht nach einem Leben nach dem Krieg spricht, nach Frieden und Glück, in denen aber auch das tägliche Grauen des Krieges an der so genannten „Ostfront“ durchscheint. Nein, mein Onkel ist nicht desertiert, er hat die Waffen nicht niedergelegt. Er war und blieb bis zu seinem Tod Teil dieser verbrecherischen Kriegsmaschinerie. Es ist von sowjetischen Soldaten erschossen worden, die ihr Land verteidigten. War er ein Held? Sicher nicht. War er ein Mörder? Wohl auch nicht. Wer vermag das heute zu beurteilen? Wer vermag diese Menschen heute zu verurteilen? Diese Diskrepanz werden wir immer wieder neu aushalten müssen. Es kann heute nicht mehr um individuelle Schuld gehen, wohl aber um die Übernahme von Verantwortung!

Wir können dieser Menschen in Trauer gedenken – und müssen doch die begangenen Verbrechen klar benennen.

Meine Damen und Herren, so geht es uns also nicht in erster Linie um die Frage der Abwahl, es geht uns um unsere gemeinsame Verantwortung! Es geht uns um die Chancen, die in dieser schmerzhaften und unvermeidlichen Diskussion liegen. Es geht uns um die inhaltlichen Fragen. Es geht uns darum, gemeinsam das Falsche in den Aussagen in diesem Blog richtig zu stellen und glaubhaft daraus Konsequenzen für die zukünftige Form des Gedenkens und Erinnerns in Lüneburg zu ziehen.

Dabei sollten wir wissen: Diese Aufgabe werden wir niemals beenden können, sie wird sich immer wieder neu und anderes stellen, weil jede Generation ihren eigenen Umgang mit der Geschichte und Wachhalten des Wissens finden muss. Und es gibt nicht die eine Form des richtigen Gedenkens, es gibt nicht den einen, ausschließlich richtigen Weg. Wichtig ist die Bereitschaft, sich den Fragen immer wieder neu zu stellen, im Bewusstsein unserer besonderen Verantwortung, selbstkritisch, offen.

Wir als SPD haben uns in den vergangenen Jahren an vielen Stellen dieser Aufgabe gestellt. Ich nenne hier das Mahnmal in der Lindenstraße, den Eisenbahnwaggon am Museum, die Auseinandersetzung um Straßennamen, die inzwischen und nach langer und sorgfältiger Diskussion begonnene Neugestaltung der Synagogen-Gedenkstätte, oder, erst gestern nach ähnlich aufwändiger Diskussion auf den Weg gebracht, die Umgestaltung des KZ-Ehrenfriedhofs im Tiergarten. Die Liste ließe sich fortsetzen – und kann nicht abgeschlossen sein. Es werden weitere Fragen auftauchen, denen wir uns zu stellen haben – zum Beispiel den Kontext um den im Fokus der Diskussion stehenden Gedenkstein für die 110. Infanteriedivision neu und angemessen zu gestalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen – wie der von der Fraktion DIE LINKE gestellte Antrag zu entscheiden ist, wird am Ende jede und jeder von uns selbst und für sich entscheiden müssen. Eins ist dabei sicher: Niemand, Herr Blanck, agiert dabei taktisch oder macht sich die Entscheidung leicht. Allein die Unterstellung finde ich einigermaßen unangebracht angesichts der Bedeutung des Themas. Aus unserer Sicht aber stehen die inhaltlichen Fragen im Vordergrund – da lassen Sie uns gemeinsam handeln und unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden!

Vielen Dank!