Rede zur Gedenkfeier der „Euthanasie“-Gedenkstätte des Psychiatrischen Klinikums Lüneburg
von Friedrich von Mansberg

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

hier stehen und sich des Vergangenen gegenwärtig erinnern. Auch hier. Was ist Unbegreifliches, Unaussprechliches geschehen, auch hier geschehen. Das Entsetzen auch heute noch vor dem grausamen Ausmaß des Menschen-Möglichen.

Willy Brandt – vor bald fünfzig Jahren – kniete nieder und schwieg.

Wie können wir heute diese Fassungslosigkeit, unsere Sprachlosigkeit überwinden, der Erinnerung, dem Gedenken immer wieder neu ihre dringend benötigte Stimme geben? Was können wir nutzen? Wovon können wir ausgehen?

Wir haben diese Orte des Gedenkens, Erinnerungsorte. Orte wie diesen. Orte, die wir sichtbar und erfahrbar machen müssen. Deshalb gebührt all denen unser Dank, die über viele Jahre schon, aber auch gerade jetzt genau daran arbeiten: diesen Gedenkort noch deutlicher und für mehr Menschen sichtbar zu machen. Deshalb auch haben wir uns in Rat und Verwaltung zuletzt für die längst überfällige Neugestaltung des KZ-Friedhofs im Tiergarten stark gemacht, die mittlerweile begonnen wurde. Deshalb haben wir über mehrere Jahre gemeinsam nach einer würdigen Neugestaltung der Synagogengedenkstätte in der Reichenbachstraße gesucht. Nun entsteht dort ein Ort, ein Raum des Gedenkens, am 9. November soll er eingeweiht werden.

Wir haben die Stimmen der Opfer. Überlebende und ihre Angehörigen. Stimmen der Erinnerung. Auch heute hier unter uns. So wie in dieser Woche, als Überlebende der Todeslager der deutschen Wehrmacht in Ozarichi in Belarus unsere Stadt besuchten. Sie überwinden auch für uns die Sprachlosigkeit, Sie halten ihren Schmerz wach um zu berichten. Dafür gebührt Ihnen unser Respekt und unsere tiefe Dankbarkeit.

Heute stehen wir vor der Herausforderung, „Erinnern“ und Gedenken neu zu gestalten. Denn die Zeitzeugen werden weniger, ihre Stimmen werden nicht mehr lange zu hören sein. Wie kann das gelingen?

Lassen Sie mich einige Aspekte benennen, von denen wir ausgehen, die wir nutzen können.

Da sind die Orte. Orte des Erinnerns und Gedenkens, in Zukunft mehr noch auch Lernorte. Im Zuge der aktuellen Debatte um die Erinnerungskultur in Lüneburg müssen wir diese Orte in den Blick nehmen. Die Orte, die in ihrer Bedeutung schon heute im Zentrum der Diskussion stehen. Aber auch andere. Sie müssen durch Gestaltung sichtbarer und erfahrbarer werden: Ein gestalteter Ort kann Wirkung entfalten, berühren, Konzentration und Erkennen ermöglichen, sei es räumlich, ästhetisch oder durch die bereitgestellten Informationen.

Und da sind – und dieser Hinweis ist wohl in unserer Zeit keine Selbstverständlichkeit mehr – da sind die historischen Fakten. Entschieden müssen wir allen Versuchen entgegentreten, historische Wahrheiten zu verwässern, umzudeuten, zu relativieren, aufzurechnen oder schlicht zu negieren. Deswegen haben wir uns jüngst für eine Neufassung des erklärenden Textes am Stein für die 110. Infanteriedivision eingesetzt: um die Fakten unmissverständlich zu benennen! Völlige Vernichtung war das Ziel des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, die Zahl der Opfer und die Art ihrer Ermordung sind zu nennen.

Nein, Geschichtsschreibung und eben auch Erinnern sind nicht beliebig konstruierbar. Nein, aus Fakten werden niemals Ansichtssachen. Und alternative Fakten gibt es nicht. Der Schmerz, der mit dem klaren Benennen der grausamen historischen Fakten verbunden ist, muss immer wieder ausgehalten werden. Auch hier. Auch heute. Aber es gilt auch, gerade bei jüngeren Menschen, Neugier zu wecken und zu fördern. Der größer werdende zeitliche Abstand lässt auch wachsende Unbefangenheit zu.

Was ist unsere Verantwortung heute?

Frank-Walter Steinmeier formulierte es am 29. Juni diesen Jahres in Belarus so: „Es hat in Deutschland lange, viel zu lange gedauert, sich an diese Verbrechen zu erinnern. Lange, zu lange haben wir gebraucht, uns zur Verantwortung zu bekennen. Heute besteht die Verantwortung darin, das Wissen um das, was hier geschah, lebendig zu halten. Ich versichere Ihnen, wir werden diese Verantwortung auch gegen jene verteidigen, die sagen, sie werde abgegolten durch verstrichene Zeit.“ Zitat Ende.

Welche konkreten Aufgaben ergeben sich daraus?

Von der Sichtbarmachung der historischen Orte als Gedenk- und Lernorte habe ich schon gesprochen. Hier, auf dem Gelände des PKL, geschieht das beispielhaft.

Nötig ist aber auch die (selbst-) kritische Aufarbeitung des Umgangs mit Geschichte seit dem zweiten Weltkrieg. Wie konnte es, zum Beispiel, dazu kommen, dass die Stadt Lüneburg 1960 ein „Ehrenmal“ für die 110. Infanteriedivision, die an den grausamen Verbrechen von Ozarichi beteiligt war, in ihre „Obhut“ genommen hat? Wir müssen uns wirksam aus Verdrängung, Verleugnung und Gleichgültigkeit lösen, die viel zu lange vorherrschten und nun neu um sich greifen.

Von entscheidender Bedeutung wird dabei sein: Mit den nachfolgenden Generationen in Austausch treten. Das historische Wissen muss mit jungen Menschen immer wieder neu erarbeitet, erschlossen, erfahren werden. Und das heißt: ihre Fragen, ihre Perspektiven aufnehmen – weniger besetzt von Fragen der Schuld, wachsamer aber für die Konsequenzen für heute. Das wird im übrigen auch die wichtigste Aufgabe des Forums Erinnerungskultur in Lüneburg sein, das im November startet: Erinnern lebendig zu halten durch Begegnung, Austausch, Diskussion und wenn nötig auch Streit. Erinnerung ist nicht Teil der Vergangenheit sondern Teil der Gegenwart! (...)

Meine Damen und Herren, Frank-Walter Steinmeier schloss in seiner Rede mit den Worten: „’Komm und sieh!’ ist eine Verpflichtung, die niemals erlischt.“ Das wird unsere Aufgabe sein: Sichtbar und Erfahrbar machen, was so schwer zu benennen, einzugestehen ist. Die Sprachlosigkeit überwinden. Den historischen Fakten eine klare Stimme geben. Und junge Menschen heute, schon weitestgehend ohne die Berührung mit den Erzählungen von Zeitzeugen aufgewachsen, in diesen Prozess einbeziehen. Und dabei offen und selbstkritisch bleiben. In diesem Sinne leistet diese Gedenkstätte, die heute eröffnete Ausstellung, und leisten Sie, Frau Dr. Rudnick, Beispielhaftes. Dafür noch einmal mein großer Dank!