Lüneburger Senioren zu Besuch in Forst (Lausitz)
Lüneburger Senioren zu Besuch in Forst (Lausitz) Forst, eine Stadt mit schrillen Gegensätzen
Sehenswerte, schön renovierte Bürger- und Geschäftshäuser mit stuckverzierten Fassaden, Balkonen, Erkern und Türmchen, daneben Häuser, die dem Verfall preisgegeben sind und deren einstige Pracht nur noch zu erahnen ist, links erhebt sich über die Dächer die neu erbaute Feuerwache, rechts ein kleiner Park mit jungen Lindenbäumen, danach das Verwaltungsgebäude des Kreises Spree-Neiße in einer gelungenen Verbindung von Altbau und moderner Architektur und im Hintergrund, quer über das ganze Sichtfeld, ein altes mächtiges Fabrikgebäude mit leeren Fensterhöhlen, bröckelnden Ziegelsteinen, eingefallenen Dachteilen, eine Industriebrache wie aus dem Bilderbuch. Solche Ansichten boten sich elf Lüneburgern, die vom 21. bis 23.5.2008 in Forst (Lausitz), einer Kleinstadt direkt an der polnischen Grenze, zu Gast waren, als sie durch die Lindenstraße zum Mühlbach gingen. Ihnen wurde bei einem ausgedehnten Stadtrundgang nicht nur die Stadt gezeigt sondern auch die aktuelle kommunalpolitische und städtebauliche Situation und die daran geknüpften Erwartungen ausführlich geschildert.
Mit dem EC „Wawel“ waren sechs Männer und fünf Frauen der SPD-Arbeitsgemeinschaft 60 plus in rd. vier Stunden ohne umzusteigen nach Forst gereist. Dort wurden sie am Bahnhof von ihren Gastgebern aus dem SPD-Ortsverein Forst herzlich begrüßt.
Gleich nach dem Mittagessen gab es ein erstes Gespräch mit dem Ortsvereinsvorsitzenden und einem Mitglied aus dem Wirtschafts- und Finanzausschuss der Stadtverordne-tenversammlung. Diese gaben einen kurzen Überblick über die kommunalen Verhältnisse. Nach herben Verlusten bei der letzten Kommunalwahl hat die SPD nur noch vier der achtundzwanzig Mandate in der Stadtverordnetenversammlung errungen. Trotz Einge-meindung von zehn Ortschaften sank die Einwohnerzahl seit dem Jahr 2000 um mehr als 2.500 auf knapp 22.000 Menschen. Deren Altersdurchschnitt steigt schnell, weil die Jungen wegziehen um zu studieren oder andern Orts Arbeit zu finden. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, seitdem 1992/1993 das Ende der Tuchindustrie unwiderruflich gekommen war. Noch um 1900 wurde die Stadt das „Manchester Deutschlands“ genannt, von dem es damals hieß, der Stoff für jeden zweiten Anzug käme aus Forst. Die Tuchfabriken und die dazu gehörenden Metallfabriken sowie Handwerksbetriebe waren vor der Wiedervereinigung die größten Arbeitgeber gewesen. Heute ist das der Braunkohletagebau.
So etwas wie ein Gewerbegebiet gab es nicht. Die Fabrikgebäude sind über die ganze Stadt verteilt. Eine private Stadtbahn, die „Schwarze Jule“, fuhr auf eigenen Gleisen in den Straßen und verband alle Fabriken miteinander. An einigen Ecken sind davon noch Gleisstücke u sehen. Die stehen heute unter Denkmalsschutz. Das erschwere und verteuere die Sanierung der innerstädtischen Straßen erheblich. Weil ebenfalls mit Denkmalsschutz begründet zahlreiche Straßen mit Pflastersteinen und nicht mit einer Asphaltdecke erneuert werden, gibt es immer wieder Ärger mit Anwohnern. Das Pflaster verursache erheblich lauteren Verkehrslärm.
Da die Fabriken über das ganze Stadtgebiet verteilt waren, gibt es jetzt an allen Ecken und Enden große Fabrikgebäude, die langsam verfallen. Die früheren Besitzer haben daran jegli-ches Interesse verloren. Viele gibt es sogar nicht einmal mehr. Das gilt auch für zahlreiche Stadtvillen, die Fabrikbesitzer oder Direktoren in Fabriknähe bauen ließen. Die Stadt hat nicht das Geld, diese Ruinen schnell abzureißen. Dort wo Häuser oder Fabriken abgerissen wurden entstehen große Baulücken. Schöner alter Baumbestand und üppig blühende, alte Rotdornbäume lindern zum Teil das zerrissene Stadtbild.
Mit berechtigtem Stolz wurden die Aufbauleistungen der Kommune gezeigt. Die neue Feu-erwache, der Sitz der Kreisverwaltung Spree-Neiße, das prachtvolle Gymnasium im Bauhausstil, ein tolles Rad- und Reitstadion, das neugestaltete Freibad, die erneuerten Uferbefestigungen des Mühlbachs, der sich durch die ganze Stadt schlängelt, der früher Kraftwerke antrieb und die Tuchfabriken mit Wasser versorgte oder die neuen Rad- und Wanderwege um den Tourismus zu fördern und der 72 m hohe imposante Wasserturm, zu dessen Füßen jährlich ein „Wasserturmfest“ tausende von Besuchern aus der ganzen Region anlockt. Ungewohnt ist, dass alle öffentlichen Gebäude nicht nur in Deutsch sondern auch in Sorbisch beschildert sind.
An der mit Baugerüsten und hinter Planen verborgenen Nicolai-Kirche wurde der unge-brochene Bürgersinn der Forsterinnen und Forster sichtbar. Weil das öffentliche Geld fehlte, spendeten sie 100.000 € für die Restaurierung. „Dort wo privates Kapital eingesetzt wird, geht alles schneller. Sonst geht es zwar voran, aber langsam.“
Nachdenklich standen die Lüneburger an der „Langen Brücke“, die keine Brücke mehr ist. Früher führte sie über die Neiße in den Ortsteil Bergen. Heute stehen nur noch Pfeiler mit kleineren Brückenteilen, auf denen Gras und Steinkaut wächst. Eine Gedenktafel erinnert an alle unbekannten Flüchtlinge, die an der Neiße ums Leben kamen. Am gegenüberliegenden Ufer beginnt Polen. Der Stadtteil Bergen, im Krieg stark beschädigt, wurde vollständig abge-tragen. Es gibt ihn nicht mehr. Die Steine wurden zum Wiederaufbau Warschaus verwandt. Die Neiße, aus der einige Kilometer aufwärts das Wasser für den Mühlbach abgeleitet wird, ist hier nur ein schmaler Fluss, der sich malerisch durch die Landschaft windet. In der Ferne sieht man eine weitere zerstörte Brücke und dahinter eine Eisenbahnbrücke. Über die führt einspurig die Bahnstrecke nach Krakau. Unter einer Allee von Kastanienbäumen, die in voller Blüte standen, führt ein Rad- und Wanderweg die Neiße entlang. Eine idyllische Landschaft, wären da nicht die zerstörten Brücken.
Zum Abendessen kamen weitere SPD-Mitglieder dazu. Es gab nicht nur schmackhafte, gut bürgerliche Küche, sondern vor allem in kleinen Gruppen intensive persönliche Gespräche. Von den oft behaupteten Ressentiments zwischen Ost- und Westdeutschen war nichts, aber auch Garnichts zu spüren. Es war ein rundherum gelungener Abschluss des ersten, an-strengenden Tages.
Am nächsten Morgen wurden sie im Besucher-Zentrum der Firma Vattenfall Europe Minning AG begrüßt, die den Braunkohle-Abbau in der Lausitz und damit auch den Tagebau Jänschwalde, ca. 30 km nordwestlich von Forst, betreibt. Dort werden 5.300 Arbeitnehmer beschäftigt. Vor der Wiedervereinigung waren es noch 7.800 gewesen. Das Abbaugebiet in Jänschwalde ist ca. 8.500 ha groß. Es wurde 1976 in Betrieb genommen. Bis 2026 soll dort der Kohleflöz, der eine Mächtigkeit von 8 bis 12 Metern hat und nur 40 bis 90 Meter unter der Oberfläche liegt, abgebaut werden. Es werden jährlich ca. 14,4 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert. Der größte Teil davon wird in dem nahegelegenen Kraftwerk verstromt. Die Kohle wird direkt aus der Grube mit einer konzerneigenen Eisenbahn angeliefert.
Der Tagebau sieht wie eine riesige rechteckige Wanne mit terrassenförmigen Seitenwänden aus. Auf der einen Seite fressen sich große Eimerkettenbagger in zwei Etagen, mit einer Geschwindigkeit von 12 Metern wöchentlich, durch die Landschaft. Eine gigantische Konstruktion, die Förderbrücke F60, 900 Metern lang, streckt sich wie ein querliegender Eifelturm aussehend, fast über die ganze Grube. Auf ihr wird der Abraum quer über die Ab-baustrecke auf die Seite der Grube gebracht, auf der die Braunkohle bereits abgebaut wur-de. Geradezu bescheiden nimmt sich dann die eigentliche Abbaustrecke mitten in diesem riesen Loch aus. Auch die großen Güterwagen, mit denen die Kohle weggefahren wird, wir-ken von oben aus lächerlich klein.
Die ganze Dimension des Braunkohletagebaues lässt sich im Rekultivierungsgebiet und im Vorfeld-Abbau sehen. Der Teil, über den der Tagebau bereits hinweg ging und dessen Re-kultivierung als Altlast durch die öffentliche Hand zu finanzieren ist, wurde inzwischen mit Kiefern und anderen Bäumen bepflanzt. Ein Freizeitgelände mit See ist langfristig geplant. Näher an der Grube sieht es eher wie auf dem Mond aus. Lange Wälle aus Sand- und Erd-aufschüttungen reihen sich aneinander. Der Regen hat tiefe Rillen rein gegraben. Im Tage-bauvorfeld werden Bäume abgeholzt. Wurzelstrünke sind zu Haufen aufgetürmt. Dazwischen sind Archäologen am Buddeln. In der Mitarbeiterzeitschrift „terravatt“ 05/08 wird darüber be-richtet. Danach war ein „komplettes germanisches Dorf aus der römischen Kaiserzeit“ ent-deckt worden.
Nach dem Mittagessen im Betriebsrestaurant führte die Rückfahrt durch den Stadtteil Horno. Das ist heute ein Stadtteil von Forst und war früher ein eigenständiges Dorf. Es musste wie in den nächsten 10 Jahren weitere zehn Dörfer der Kohle weichen. Dagegen sind Bürgerini-tiativen und Umwelt-Organisationen aktiv. Um die Widerstände gegen die Umsiedlungen zu überwinden, zeigt sich der Konzern Vattenfall sehr großzügig beim Wiederaufbau neuer Dörfer mit attraktiven Häusern, modernen öffentlichen Einrichtungen, wie Schulen, Kirchen und Sportplätzen. Aber was nicht mit Geld zu lindern ist: „Vor allem für ältere Menschen ist und bleibt es eine schwierige Situation.“ Die Kommunalpolitik wird durch Neid der Menschen in den alten Stadtteilen, vor allem in den unmittelbar angrenzenden, belastet.
Eine heile, sprichwörtlich rosige Welt tat sich danach beim Besuch im „Ostdeutschen Rosen-garten“ auf. Forst nennt sich die Rosenstadt. Als solche bewirbt sie sich um die Landesgar-tenschau 2013. Eine gepflegte Parkanlage, 15 Hektar groß, mit siebenhundert Rosensorten auf 40.000 Rosenstöcken, lädt zum Schlendern und Schauen ein. Einzelne Wildrosenbüsche hatten bereits ihr Blütenkleid angelegt. Die anderen werden in etwa vier Wochen folgen. In einem rustikalen Garten-Cafe gab es eine ersehnte Pause mit Kaffee, Kuchen und Eisbechern. Dabei wurden kleine Gastgeschenke übergeben und die Einladung für einen Gegenbesuch in Lüneburg ausgesprochen.
Am späten Nachmittag stand dann noch eine Fahrt nach Prody, einem kleinen Dorf in Polen, auf dem Programm. Das ging problemlos ohne Grenzkontrollen, da Polen inzwischen dem Schengen-Abkommen beigetreten ist. Schärfer konnte der Kontrast zum Rosengarten nicht sein. Durch ein Tor, das nach Renovierung schrie, ging es über eine unbefestigte Straße mit Pflasterresten, vorbei an Häusern und Geschäften, die alle neuen Putz und Farbe dringend nötig gehabt hätten, nach Prody hinein. Überall gab es vor sich hin rostende Reklametafeln, mit Draht und Schnur zusammengebundene Maschendrahtzäune und schief in den Angeln hängenden eiserne Gartentore. Das Ziel war Schloss Pförten, das vom Grafen Bühl, die Geschichte sagt zu Zeiten August des Starken der mächtigste und reichste Minister Sachsens, erbaut wurde. Nach einem Brand ist es heute nur noch eine Ruine, wenngleich auch eine imposante. Der große Landschaftspark hinter dem Schloss ist inzwischen jedoch völlig verwildert. Mit Mitteln der EU soll die gesamte Schlossanlage einschließlich Park wieder hergestellt werden.
Der Schlossplatz wird rechts und links von zwei langen Gesindehäusern oder Marschställen, die genau im rechten Winkel zum Schloss stehen, eingesäumt. Eines ist heute ein Hotel, das sich in Insolvenz befinden soll. Gäste waren keine zu sehen, aber Bilder und Fotos, wie das Schloss vor dem Brand aussah, gab es zu bestaunen. Das dem Hotel parallel gegenüberliegende Haus sah auf den ersten Blick auch restauriert aus. In Wirklichkeit war nur dessen Fassade verputzt und gestrichen worden. Dahinter zerbröselt das Haus. Das Dach ist teilweise eingesunken. Leere Fensterhöhlen sind mit Brettern zugenagelt. Durch deren Spalten ist Abfall und Bauschutt zu sehen. Die Türen sind mit Silikonmasse primitiv abgedichtet.
Am letzten Besuchstag ging es nach dem Frühstück zum Brandenburgischen Textilmuseum in einer ehemaligen Tuchfabrik. Es wurde 1995 eröffnet. Betreut und geführt wird es von ei-nem Museumsverein, der inzwischen 130 Mitglieder hat. Vom Kämmen der Wolle, das im Fachjargon „parallelisieren“ genannt wird, bis zum gewebten Tuch, wurden alle Fertigungs-stufen gezeigt. Handwebstühle aus verschiedenen Zeiten, vor allem aber Maschinen aus Forster Spinnereien und Webereien, wurden vorgeführt. Da ratterten Spinnmaschinen. Der Lärm lauter Walkmaschinen erfüllte die ehemalige Werkhalle. Gleich danach scheppernden mechanische Webstühle. Wolle, Fäden, Garne und die fertigen Erzeugnisse konnten ange-fasst, befühlt und bewundert werden. Eine ehemalige Arbeiterin aus einer der Forster Tuch-fabriken erzählte authentisch über die Arbeits- und Produktionsbedingungen.
Der Abschluss war ein Mittagessen in einem Cafe und Restaurant am Markt. Drei ereig-nisreiche und hoch interessante Besuchstage in der Rosenstadt Forst in der Lausitz endeten um 15.27 Uhr auf dem Bahnhof, als sich der EC „Wawel“, aus Krakau kommend, zur Rück-fahrt in Bewegung setzte. (Siegfried Kubiak)