Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident, spricht mit uns über seine Erinnerungen an 30 Jahre Wiedervereinigung und die Frage nach der Macht. Hört euch das vollständige Interview an.

Rebekka Macht: Hallo Wolfgang schön, dass du dir die Zeit für uns nimmst. Hier sind Rebekka und Aline und wir sprechen heute mit dir über 30 Jahre Deutsche Einheit.

Aline Langbartels: Wie Hast Du Die Wendezeit erlebt?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Jahr 1989/90 - man sagt, das sei ein Wunder gewesen - war eine dramatische Veränderung meines Lebens. Bis dahin war ich eine Art „Privatgelehrter“ in Anführungsstrichen. Ich war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR und befasste mich mit Geschichte der Ästhetik, Geschichte der Künste und der Literatur.
Ich war politisch immer interessiert, aber war natürlich nicht in der SED oder in einer Blockpartei.
Und in diesem Sommer, Herbst hatte ich wie viele andere das Gefühl, vielleicht können wir etwas ändern in diesem Land. Etwas das davor nie sichtbar war. Insofern bin ich auf die Straße gegangen, habe an Versammlungen teilgenommen, bin in das Neue Forum eingetreten und habe diskutiert.
Da ich der Meinung war immer nur weiter diskutieren reicht nicht, man muss auch die Frage nach der Macht stellen, bin ich Anfang Januar in die neu gegründete Sozialdemokratische Partei in der DDR eingetreten. Dort habe ich mitgemischt, am Wahlprogramm der SPD mitgewirkt und bin dann in die Volkskammer gewählt worden. Das ging alles sehr schnell. Das war eine wirklich dramatische Veränderung. Plötzlich war ich vom politischen Beobachter zu einem politischen Akteur geworden, der seine Haut zu Markte trug, der Verantwortung übernommen hat, der sichtbar wurde, der öffentlich stritt und der hoffentlich auch ein bisschen etwas bewirkt hat.


"Wir Ostdeutschen treten nicht dem Paradies bei, aber auch nicht der Hölle."


Dr. Rebekka Macht: Welche Hoffnungen und Erwartungen hattest Du in dieser Zeit?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es ging zunächst einmal um eine Veränderung in der DDR. Es ging um den Rechtsstaat, es ging um Grundrechte und es ging um die Freiheiten – sprich die Freiheit der Meinung, die Freiheit zu Reisen, die Freiheit eine Partei zu gründen. Es ging um wirkliche Demokratie und um einen Rechtsstaat. Das war die Hoffnung.
Relativ schnell wurde mir klar, spätestens im November, aller spätestens nach dem Eindrücken der Mauer von der östlichen Seite aus, dass das auf die Deutsche Einheit zulaufen muss. Denn das wollte die Mehrheit der Ostdeutschen und ich auch, nämlich Rechtsstaat, Demokratie, Grundfreiheiten und auch Wohlstand. Das war nichts Unanständiges. Das gab es auch alles nebenan in der Bundesrepublik. Und deswegen wurde der Wunsch nach der Deutschen Einheit immer stärker. Ich habe als Sozialdemokrat gesagt, wir müssen diese Wiedervereinigung so gestalten, dass die Ostdeutschen nicht unter die Räder kommen. Dass es dabei gerecht und fair zugeht. Das war mein Anliegen, das war unser Anliegen und das war auch das, was wir in der Volkskammer und in der gemeinsamen ostdeutschen Regierung zu erreichen versucht haben. Das ist zu einem guten Teil auch erreicht worden.
Wir leben jetzt in einem gemeinsamen Deutschland, in einer gemeinsamen Demokratie, in einem gemeinsamen Rechtsstaat und auch in einem insgesamt funktionierenden Sozialstaat. Diese Hoffnungen haben sich erfüllt. Aber man konnte damals schon wissen und das habe ich auch öffentlich ausgedrückt, dass das nicht ohne Schmerzen sein wird, dass es dramatische Änderungen geben wird.
In meiner Rede in der Volkskammer zum Einigungsvertrag habe ich gesagt, wir Ostdeutschen treten nicht dem Paradies bei, aber auch nicht der Hölle. Vor uns liegen Monate und Jahre härtester Auseinandersetzungen und großer schmerzlicher Anstrengungen. Das wollten viele in der DDR nicht hören. Sie wollten lieber Helmut Kohl glauben und seinen Versprechungen. Aber das war die realistischere Prognose und deswegen bin ich auch viel weniger enttäuscht als manche, die damals unbedingt an Wunder glauben wollten. Ich habe nicht an Wunder geglaubt.
Ich dachte das Wunder war der 9. November, war der 9. Oktober in Leipzig. Und all das was nachher kommt, ist intensivste schmerzlichste Anstrengung.

Wolfgang Thierse

Aline Langbartels: Deine Erwartungen haben sich damit durchaus erfüllt, wenn wir die 30 Jahre zurückblicken. Auch wenn nicht alles einfach war und uns zugeflogen ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Auch angesichts des 30. Jahrestages ist die friedliche Revolution, also 1989 und die Wiedervereinigung zusammen, das glücklichste Ereignis der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Das ist großes historisches Glück. Wir leben jetzt wiedervereinigt in einer gemeinsamen Demokratie, in einem Rechtsstaat, in einem wohlhabenden Land und im Frieden mit allen Nachbarn.
Wir sind gewissermaßen umringt von Freunden. Wann hat es das in der deutschen Geschichte schon einmal gegeben? Das nenne ich großes historisches Glück. Darüber können und dürfen sich die Deutschen auch freuen. Ohne zu vergessen, dass das nicht ohne Probleme ist und dass wir noch eine Menge wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Aufgaben zu bewältigen haben.



"Wildfremde Menschen haben einen angesprochen, umarmt und mit Sekt bewirtet."


Aline Langbartels: Welchen Ort hast Du denn als erstes im Westen besucht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das ist nicht so leicht zu beantworten, natürlich nach dem 9. November Westberlin. Natürlich bin ich auch über die Grenze. Nicht schon in der Nacht, sondern da war ich ganz nüchtern und habe mir gesagt, wenn das alles stimmt, dass die Mauer von Osten gerade eingedrückt wird, dann will ich das zusammen mit meiner ganzen Familie erleben. Unsere Kinder waren damals noch viel kleiner und schliefen bereits. Am nächsten Tag war eine leidenschaftliche Versammlung des Neuen Forums, an der ich teilgenommen habe. Erst zwei Tage später sind wir dann als Familie nach Westberlin. Das war eine unerhörte Atmosphäre, eine heitere Stimmung in der ganzen Stadt. Wildfremde Menschen haben einen angesprochen, umarmt und mit Sekt bewirtet. Das war eine Hochzeit im wörtlichen Sinne des Wortes. Und klar war, dass dieser poetische Höhenflug nicht durchzuhalten ist und dass die prosaischen Verhältnisse des Alltags einkehren, aber das ist ein unvergessliches Erlebnis gewesen.

Dr. Rebekka Macht: Weißt du noch, was du dir von deinen Hundert Mark Begrüßungsgeld gekauft hast?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich weiß es nicht mehr genau. Ich vermute es waren Bücher und Zeitungen.
Mit Sicherheit habe ich mir den Spiegel und die Zeit gekauft, weil ich immer davon geträumt habe, das freie Wort pflegen und eine freie Presse erleben zu können. Mit Sicherheit habe ich das als erstes gemacht.
Vielleicht sind wir auch zusammen einen Kaffee trinken gegangen. Ich weiß noch, dass wir mit meinen Kindern, die damals sechs und zehn Jahre alt waren, zusammen in den Zoo gegangen sind. Wobei das an dem Tag nichts kostete.


"Ich wünsche mir sehr, dass noch vorhandene Ungleichgewichte und Ungereimtheiten zwischen Ost und West nach und nach überwunden werden."


Aline Langbartels: Du sagtest eingangs, die Wiedervereinigung sei ein langer Prozess gewesen. Wie vereinigt sind denn die Sozialdemokrat*innen aus Ost und West aus deiner Sicht heute?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zunächst muss man sich daran erinnern, dass sich eine große, erfahrene und vor allem neue Partei voller Anfänger vereinigt hat.
Die Gewichte waren klar verteilt. Das galt ebenso für die staatliche Vereinigung.
Die Bundesrepublik war ein starkes und erfolgreiches Land und die DDR ein gescheitertes Land und System. Da sind Gewichte immer klar verteilt. Ich sage das ohne Vorwurf. Das ist die nüchterne Tatsache und natürlich gab es zunächst Fremdheiten.
Die Ost-SPD wurde von Pastoren gegründet. Ich bin übrigens keiner. Viele Naturwissenschaftler und Ingenieure waren dabei. Wir haben alle angefangen, wir waren naiv und wir waren Idealisten. Ich erinnere mich, wie die erfahrenen, cleveren, westdeutschen Politiker sich, auch unter den Sozialdemokraten, gelegentlich über uns wunderten. Ich erinnere mich aber auch an den großen Respekt, mit dem gerade Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel uns und auch mich selber behandelt haben. Wirklich mit Respekt vor unserem andersartigen Leben, vor unserer gelebten und politischen Tapferkeit. Das werde ich nie vergessen, das gehört auch zu einem glücklichen Moment dieses Jahres 1990.
Inzwischen sind 30 Jahre vergangen, es gibt Normalität. Die Parteien sind vereinigt, dennoch gibt es immer noch Ungleichgewichte. Die SPD in den ostdeutschen Ländern ist schon zahlenmäßig viel schwächer, da wirken Prägungen aus der DDR nach. Mit einer Partei nichts zu tun haben wollen, mit der Politik nichts zu tun haben wollen, da wirken auch Enttäuschungen und Schmerzen der letzten 30 Jahre nach. Dieses Ungleichgewicht gibt es immer noch.
Sonst gibt es Normalitäten, denn unter dem Führungspersonal der gesamtdeutschen Sozialdemokratie hat es nicht nur den stellvertretenden Parteivorsitzenden Thierse gegeben, sondern eben auch Matthias Platzeck, Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt oder heute Manuela Schwesig und andere. Ich denke wir sind eine vereinigte Partei mit unterschiedlichen Gewichtungen, unterschiedlichen Stärkeverhältnissen.

Dr. Rebekka Macht: Vielleicht noch eine letzte Frage, was wünscht du dir denn für die Zukunft - für die SPD und für das Land?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich wünsche mir sehr, dass noch vorhandene Ungleichgewichte und Ungereimtheiten zwischen Ost und West nach und nach überwunden werden. Man sollte das Gerede von den Mauern in den Köpfen und manch andere Vorwürfe nicht übertreiben. Die halte ich für falsch und unangemessen. Dennoch gibt es Differenzen, langjährige Prägungen, ökonomisch-soziale Ungleichheiten und kulturelle Ungleichgewichte. Daran ist zu arbeiten. Und ich wünsche mir, dass das gelingt.
Ich sehe auch, dass da eine neue deutsche Mischung entsteht. In den vergangenen Jahren sind, wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, etwa vier Millionen aus Ost nach West gewandert. Das ist ein sehr schmerzlicher Vorgang gerade in den kleinen Dörfern auf dem flachen Land. Das tut weh. Aber in der gleichen Zeit sind etwa zweieinhalb Millionen Westdeutsche nach Osten gewandert. Mit Leipzig, Jena, Dresden, Berlin und Potsdam entsteht eine neue deutsche Mischung, mit der ich Hoffnung verbinde. Auch mit den dazugekommenen Zuwanderern entsteht wirklich etwas Neues und ein anderes und neues Deutschland, das zukunftsträchtig ist. Darauf zu setzen und all diese Prozesse zu befördern, das wünsche ich mir sehr.
Damit das Wirklichkeit wird, was Willy Brandt in seiner unnachahmlichen Regierungserklärung von 1969 gesagt hat: Wir Deutschen wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Nach innen und nach außen.

Dr. Rebekka Macht: Danke schön. Das war ein schönes Schlusswort. Vielen vielen Dank für Deine Zeit.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ein schönes politisches Wochenende wünsche ich.